70 Prozent der Deutschen halten den Staat für überfordert. Frust und Verlust von Vertrauen in den Staat und das demokratische System können folgen. Grund genug für die ehrenamtliche „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ sich unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten mit einer gründlichen Staatsreform zu beschäftigen. Mit ausgewiesenen Expert:innen aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft wurden neue und alte Herausforderungen analysiert, Lösungspfade entwickelt und konkrete Reformempfehlungen vorgelegt – so auch im Feld „Digitaler Staat & Verwaltung“. Erfreulich für die Initiative: Gleich im Koalitionsvertrag haben die Regierungsparteien etliche Vorschläge aufgegriffen, darunter an erster Stelle – die Einrichtung eines Ministeriums für Digitales und Staatsmodernisierung. Doch klar ist: Ein moderner Staat lässt sich nicht allein durch ein neues Ressort gestalten. Staatsreform und Digitalisierung sind zwei Seiten einer Medaille. Das eine gelingt nur mit dem anderen. Ein Kommentar zu den Abschluss-Empfehlungen.
Den Finger tief in die Wunde gelegt – wie groß muss das Pflaster sein?
Bereits in der Einleitung des Kapitels „Digitaler Staat & Verwaltung“ legt der im Juli vorgestellte Abschlussbericht der Initiative den Finger in die Wunde: „In Europa und global hinkt Deutschland bei der Digitalisierung des Staates weit hinterher. Der volkswirtschaftliche Schaden ist enorm, der Frust der Bürger ebenso. Die Gründe sind vielfältig: fehlende politische Priorisierung, unklare Kompetenzen auf ministerieller Ebene, Verantwortungshickhack zwischen Bund, Ländern und Kommunen, veränderungsunerfahrene oder gar veränderungsresistente Verwaltungskulturen.“
Eine Status-Quo-Beschreibung, die kaum drastischer ausfallen könnte. Um endlich effektiv gegenzusteuern, empfiehlt die überparteilich und hochkarätig besetze Expertengruppe:
- Die Einrichtung eines Bundesministeriums für Digitales und Verwaltung mit weitreichenden Kompetenzen in der Digitalisierung und der Verwaltungstransformation;
- ein Umdenken in der Verwaltungskultur und die Neustrukturierung von über 900 Bundesbehörden;
- Neuregelungen in der Bund-Länder-Kommunen-Zusammenarbeit, um Aufgaben sinnvoll zu zentralisieren und gemeinsame, praktikable Lösungen auf die Straße zu bringen und
- die Erprobung von organisatorischen, kulturellen und technischen Neuerungen in Modellregionen und Modellkommunen.
Mit der Errichtung des Bundesministeriums für Digitales und Staatsmodernisierung (BMDS) ist die Regierung Merz der ersten Empfehlung bereits nachgekommen. Und das, so wie es bisher aussieht, nicht nur auf dem Papier, sondern mit echten Neustrukturierungen von Personal, Behörden und Prozessen, einem Budgetvorbehalt und vor allem einer kompetenten Führungsmannschaft. Den neuen Digitalminister Karsten Wildberger aus der freien Wirtschaft zu holen, ist ein kluger Schachzug, von dem sich viele ein neues, veränderungsmutigeres Mindset im Digitalministerium erhoffen.
Die weiteren Empfehlungen fallen leider wenig konkret aus. Wann und wie soll sich eine Verwaltungskultur etablieren? Wann sind Beharrungskräfte dem Mut für Neues gewichen? Wann und wie soll eine Neuregelung der Bund-Länder-Beziehungen vonstatten gehen? Immerhin müsste hierfür die Verfassung mit Zwei-Drittelmehrheit verändert werden. Vor allem aber:
Wo ist die digitale Souveränität?
Eine Leerstelle fällt beim Lesen des Berichts gleich ins Auge: Die zwei Worte „digitale Souveränität“ sucht man im elfseitigen Kapitel zum digitalen Staat vergebens. Gerade die Entwicklungen der letzten Monate unterstreichen: Digitale Souveränität muss eines der Hauptmerkmale beim Aufbau einer leistungsfähigen Verwaltung in Deutschland sein. Das bedeutet nicht Abschottung, sondern Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Flexibilität, wie sie Open Source bietet. Ein Lichtblick ist, dass die Koalitionäre dies auch erkannt haben und das Thema digitale Souveränität gleich mehrfach explizit in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen haben und souveräne, offene Software für die öffentliche Hand verstärkt fördern wollen.
Mut oder Modellversuch?
Gut, dass die Staatsreformer immer wieder über Mut, Fehlerkultur und Umsetzungsstärke sprechen. Doch an letzterer mangelt es besonders. Hier ist auch die Initiative recht mutlos, wenn sie nach Modellregionen und Modellkommunen ruft. Richtig finde ich: Wir müssen testen, ausprobieren, scheitern, lernen, besser machen. Dafür braucht es Freiräume und Möglichkeiten. Aber wenn, dann richtig: In der Vergangenheit wurde die deutsche Digitalisierungspolitik vielfach für ihren Fokus auf Leuchtturmprojekte und Modellversuche kritisiert. Die Zeit zum „Wir probieren mal, ob es diese Digitalisierung eigentlich braucht und wie sie funktionieren könnte“, ist aus meiner Sicht längst vorbei. Ja, es braucht Testfelder – aber diese dürfen nicht abgekoppelt von der restlichen (Verwaltungs-) Realität existieren. Wir müssen die „Ausprobier“-Mentalität in alle Behörden reinbekommen. Und wir müssen jahrelange Modellversuch-Evaluation-Diskussion-Vielleicht-Umsetzen-Zyklen abkürzen und agiler werden beim Entwickeln, Testen und Ausrollen digitaler Dienste für die Bürger:innen.
Vorschläge ernst nehmen, umsetzen und weiterdenken
Die Vorschläge der Initiative für einen handlungsfähigen Staat sind eine wertvolle Basis, um die digitale Wende in der deutschen Verwaltung zu schaffen. Und sie wurden von der Politik gehört. Gut so! Aber: Sie müssen auch in der täglichen Politikpraxis mitgedacht und umgesetzt werden. Jedes Mal, wenn wieder neue komplexe Prozesse entstehen, muss gegengesteuert werden. Jedes Mal, wenn gute Vorschläge auch abseits der Hierarchie entstehen, muss hingehört werden. Und jedes Mal, wenn man durch ausprobieren etwas dazulernen kann, muss man auch auf organisationaler staatlicher Ebene: Einfach mal machen!
Allen Beteiligten in der Regierung und Behörden sollte längst klar sein: Es geht darum, unseren Staat auch in Zeiten von Polykrise, demografischem Wandel und Fachkräftemangel handlungsfähig zu halten. Den Spirit der Vorschläge muss man mitnehmen – und nicht mit symbolträchtigen Maßnahmen zufrieden sein, sondern weiter und darüber hinaus denken. Mit Mut zu tiefgreifenden Reformen, mit einem Bewusstsein für die Relevanz digitaler Souveränität und natürlich immer mit politischem, verwaltungspraktischem und technischem Sachversand.