E-Government
Vom:
31.10.2019

Estland – der digitale Pionier

Autor:in
Charlotte Schneider
Im Jahr 2017 bezeichnete die Zeitschrift Wired Estland als die „digitalste Gesellschaft der Welt“. In Estland spielt sich nahezu alles online ab – angefangen bei der Onlinewahl über die Steuererklärung bis zur Ausstellung von Rezepten. Wie genau ein vollständig digitalisierter Staat funktioniert, hat uns kürzlich Hendrik Lume von unserem estnischen Partnerunternehmen Nortal AS vorgestellt. Die Erkenntnisse sind ebenso spannend wie motivierend für Softwareentwickler:innen und Strateg:innen wie uns, die jeden Tag die Digitalisierung Deutschlands mitgestalten. Wir nutzen die Gelegenheit, um einen genaueren Blick auf die technologische Entwicklung des baltischen Staates zu werfen.

In Estland gibt es genau drei Behördenangelegenheiten, die sich nicht elektronisch abwickeln lassen: die Eheschließung, die Scheidung und Immobiliengeschäfte. Alle restlichen 99 % der Behördenvorgänge können online erledigt werden. Damit erspart man der Bevölkerung nicht nur viel Wartezeit und den Gang zur Behörde. Auch die Prozesse selbst sind für den Bürger einfacher und nachvollziehbarer.

Ein Beispiel: Eines der langwierigsten Verfahren in Deutschland ist die Unternehmensgründung. In Estland ist der gesamte Vorgang digital verfügbar und in nur wenigen Klicks abgeschlossen. Das fördert auch den Gründergeist des gerade 1,3 Millionen Einwohner starken Landes. Anstatt mehrere Monate zu investieren und viel Geld für einen Notar zu bezahlen, ist die Gründung in Estland in 20 Minuten erledigt.

Digitalisierung von Anfang an

Aber wie genau kam es zu der Vorreiterrolle der kleinen baltischen Nation? Laut Hendrik Lume ist das ein Resultat aus der Notwendigkeit sowie einigen glücklichen Zufällen: Anfang der 1990er Jahre wurde z. B. eine Personenkennzahl eingeführt. Diese persönliche Nummer wird bis heute dafür genutzt, sich online zu identifizieren und mit Behörden zu kommunizieren. Einen weiteren Meilenstein bildet zudem der sehr frühe Umstieg auf den elektronischen Personalausweis, der mit der Personenkennziffer verbunden ist. Dadurch weist Estland nicht nur einen zeitlichen Vorsprung zu vielen europäischen Staaten auf.

In Deutschland existiert der elektronische Personalausweis seit 2010. Abgesehen von Bedenken zum Datenschutz, ging der Vorteil der neuen Chipkarte fast vollständig an der Bevölkerung vorbei. Bis heute haben nur die wenigsten die Online-Funktion des deutschen Personalausweises überhaupt aktiviert. Noch viel weniger besitzen ein Kartenlesegerät.

Zwar wurde auch in Estland die e-ID nicht von heute auf morgen gesellschaftsübergreifend angenommen. Allerdings gibt es einige feine Unterschiede, die die Akzeptanz der estnischen Bürger gefördert haben.

„Die Est:innen haben es geschafft, dass der Personalausweis in der Bevölkerung angenommen wurde“, sagt Lume. „Sie haben ihn auf Dienstleisterseite relevant gemacht.“

Mit rund 1.000 digitalen Services, die sich mit dem Personalausweis umsetzen lassen, ergebe sich ein direkter praktischer Nutzen.

Estland hatte darüber hinaus den großen Vorteil, dass die nationalen Banken die Einführung proaktiv unterstützt und die Lesegeräte für die e-ID kostenlos an ihre Kund:innen weitergegeben haben.
Bereits vor der Einführung des Personalausweises wurde das Online-Banking für die Authentifizierung bei Verwaltungsangelegenheiten genutzt. Um weiter effizient operieren zu können, war es daher auch für die estnischen Banken von Interesse, die digitale Authentifizierung mit dem Personalausweis zu fördern. Anders als in Deutschland war überdies die Aktivierung der Online-Funktion zwingend.

Aber auch die estnische Regierung hat erkannt, dass der umständliche Umgang mit dem Lesegerät geringen Anklang finden wird. Daher verfügt die e-ID nicht nur über einen RFID-Chip, sondern auch über einen Kontaktchip und einen Barcode. Dadurch ergeben sich zahlreiche weitere Use Cases. Darüber hinaus hat die Regierung ein SIM-Karten-basiertes Authentifizierungsverfahren eingeführt, bei dem die dafür notwendigen Zertifikate auf der SIM-Karte gespeichert werden. Die „Smart-ID“ macht zusätzlich die Authentifizierung mit einer App auf dem Smartphone möglich.

Viele Prozesse lassen sich jedoch immer noch nur mit einer elektronischen Unterschrift lösen. Dafür ist auf der estnischen e-ID ein elektronisches Signaturzertifikat vorhanden, sodass der Bürger:innen Dokumente kostenfrei digital unterschreiben kann. Mittlerweile werden nahezu alle privatwirtschaftlichen Verträge mittels der e-Signatur elektronisch unterzeichnet. Unternehmen können dadurch effizienter operieren und die Kund:innen sparen viel Zeit bei der Vertragsabwicklung.

Once Only-Prinzip

Für einen digitalen Staat spielt die vertrauensvolle und sichere Verwaltung von Bürgerdaten eine wichtige Rolle. Estland hat hierfür verschiedene Datenbanken mithilfe einer X-Road verbunden. Die Plattform ermöglicht es, die Daten verschiedener staatlicher Stellen untereinander zu teilen, ohne dass die Informationen an einer Stelle gespeichert werden. Der estnischen Regierung ist es damit gelungen, die Datensilos einzelner Stellen aufzubrechen.

Ein wichtiger Grundsatz des Datenaustauschs ist jedoch, dass Daten nur dann weitergegeben werden, wenn es notwendig ist. Darüber hinaus wird immer nur ein Minimum der benötigten Daten abgefragt.
So wird z. B. für eine Fahrkarte für den kostenlosen Personennahverkehr in Tallinn nur die Postleitzahl und die Info abgefragt, ob eine Person in Tallinn gemeldet ist. Es werden zudem keine Datensätze dupliziert, sondern mithilfe der X-Road-Plattform ausgetauscht, ohne dass Dritte darauf Zugriff haben. Nur in fest definierten Bereichen erhalten auch Private Zugriffsrechte. Bspw. können Ärzte in Notfällen auf die digitale Krankenakte ihrer Patienten zugreifen.

Die Vernetzung der Daten sorgt letztlich dafür, dass Services komplett medienbruchfrei abgewickelt werden können und das Once Only-Prinzip konsequent eingehalten wird. Seit 2007 ist es darüber hinaus gesetzlich verboten, dieselben Daten in separaten Datenbanken zu speichern. Ebenso ist im Wirtschaftsgesetzbuch festgehalten, dass Wirtschaftsverwaltungsbehörden keine Informationen verlangen dürfen, die bereits in einer öffentlichen Datenbank erfasst wurden.

Die Register gelten dabei als einzige Quelle, das die korrekten Daten enthält (single source of truth). Z. B. authentifiziert sich ein Arzt bei der Ausstellung von Rezepten ebenfalls mit seinem elektronischen Personalausweis. Bei jedem ausgestellten Rezept wird automatisch geprüft, ob ein Arzt eine gültige Lizenz besitzt und das jeweilige Medikament ausstellen darf. Durch die automatische Prüfung kann auch sichergestellt werden, ob es Wechselwirkungen mit anderen Rezepten gibt, die dem Patienten bereits verschrieben wurden. Nach demselben Prinzip werden viele weitere Informationen wie die Fahrerlaubnis oder der Versicherungsstatus direkt über die e-ID abgewickelt.

Digitalisierung als gesellschaftliches Projekt

Viele der hier angesprochenen Beispiele zeigen einen direkten praktischen Nutzen für die estnischen Bürger:innen. Laut Lume gebe es zwar auch in Estland Bedenken, die z. B. den Datenschutz betreffen, jeddch ergänzt er:

„Was am Ende gesiegt hat, ist die Bequemlichkeit. Die Leute haben verstanden, dass sie einen Mehrwert davon haben.“

Darüber hinaus blickt Estland auf eine einzigartige Entwicklung zurück. Nach Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1991 stand die ehemals sowjetische Nation vor der Mammutaufgabe, ihr Land von Grund auf neu aufzubauen. Die Veränderungen machten sich nicht nur auf politischer, sondern auch auf ökonomischer sowie auf gesellschaftlicher Ebene bemerkbar.
Nach der Unabhängigkeit führte das Land umfassende wirtschaftliche Reformen durch und erfuhr in den 1990er Jahren einen schnellen wirtschaftlichen Aufschwung. Dabei war die Ausgangslage relativ schlecht: Estland weist keine großen Rohstoffvorkommen sowie ein geringes Pro-Kopf-Einkommen auf. Mit rund 1,3 Millionen Einwohnenden ist Estland zudem für seine Größe ein relativ dünn besiedeltes Land. Ohne digitale Services, wären viele Vorgänge nur mit sehr viel Aufwand zu schaffen.

„Die Est:innen hatten Anfang der 90iger-Jahre kein Geld, eine geringe Bevölkerungsdichte und den unbedingten Willen, ihre Unabhängigkeit zu wahren. Und was sie als besten Weg erkannt haben, war es auf Technologie und Automatisierung zu setzen, um überhaupt die staatlichen Leistungen in einen großen Staat effizient erbringen zu können“, erklärt Hendrik Lume. „Die Esten sehen E-Government nicht als Luxus, sondern als Notwendigkeit für das Überleben des Staates.“

Wenn man mehr über die Einstellung der estnischen Bevölkerung erfahren möchte, liest man zudem immer wieder, dass ein großes Vertrauen darin besteht, dass der eigene Staat verantwortungsvoll mit sensiblen Daten umgeht. Auch dann, wenn es wie 2017 zu Sicherheitslücken kommt. Insgesamt waren durch eine technische Schwachstelle die Daten von 750.000 Personen betroffen. Anstatt alle Personalausweise zurückzuziehen, wurde die Bevölkerung regelmäßig über den aktuellen Stand informiert und die betroffenen ID-Karten wurden deaktiviert, als das Problem nach mehreren Monaten nicht gelöst werden konnte.

Ebenso transparent können Bürger:innen problemlos einsehen, welche Daten über die X-Road abgefragt wurden. Alle Beamt:innen müssen sich persönlich einloggen, bevor sie Zugriff auf die Daten erhalten.
Die Abfragen werden in einem persönlichen Konto gespeichert und Bürger:innen haben das Recht, Auskunft darüber zu erhalten, wofür ihre Daten abgefragt wurden. Nicht gerechtfertigte Datenabfragen oder die unerlaubte Weitergabe von Daten werden juristisch geahndet.

Bspw. wurde die Krankenakte des ehemaligen estnischen Ministerpräsidenten von mehreren Ärzt:innen unerlaubt eingesehen, nachdem er einen Schlaganfall erlitten hatte. Allen Personen, die dies nicht rechtfertigten konnten, wurde im Nachhinein die Approbation entzogen

Estland – Paradies für digitale Nomaden

Die vielen Vorteile des digitalisierten Staates sind aber auch bei Nicht-Est:innen beliebt: Seit 2014 ist es für alle möglich, eine digitale estnische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Damit möchte die estnische Regierung mehr ausländische Niederlassungen anziehen.
Die eigentliche Staatsbürgerschaft, der Wohnort, die ethnische Herkunft oder die Religion spielen bei der Beantragung keine Rolle. Mit der E-Residency hat man zwar kein Recht, in Estland zu leben, aber Zugang zu zahlreichen digitalen Angeboten. Man kann z. B. ein Unternehmen gründen, Dokumente digital unterzeichnen, seinen Jahresabschluss online einreichen oder Dokumente sicher verschlüsseln.

Das Konzept kam an: Heute werden rund 5.000 Unternehmen von Ausländer:innen mit digitaler Staatsbürgerschaft geführt, die mit wenigen Kosten und an jedem Ort der Welt geführt werden können. Nötig ist dafür – und so könnte es auch in einem vollständig digitalisierten Deutschland aussehen – ein Notebook und eine stabile Internetverbindung.

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